Toril Brekke – „Ein rostiger Klang von Freiheit“

1968 – ein Jahr, das mit Ereignissen und Entwicklungen Geschichte geschrieben und den Lauf der Zeit maßgeblich geprägt hat. Ein politisches wie gesellschaftliches Rumoren, das auch Oslo erreicht, in dem die Jugend gegen den Vietnam-Krieg protestiert. Im Sommer 1968 steht Agathe vor ihrem letzten Schuljahr. In ihrem Drang nach Freiheit wechselt sie die Schule, verlässt die vertraute Umgebung, um sich der Gemeinschaft der neu gegründeten reformpädagogischen Summerhill-Schule anzuschließen. Doch ein Anruf sorgt bei Agathe und ihrem jüngeren Bruder Morten für Aufregung. In ihrem doppelbödigen Roman „Ein rostiger Klang von Freiheit“ erzählt die norwegische Schriftstellerin Toril Brekke von einer besonderen Zeit und einer Familie, deren Leben von mehreren Geheimnissen überschattet wird.

Zerbrochene Familie

Aus Kopenhagen meldet sich plötzlich Lennart, der aktuelle Freund ihrer Mutter, die verschwunden sei. Die Geschwister machen sich auf den Weg nach Dänemark, um sie zu finden. Doch die erste Begegnung nach mehreren Jahren schockiert vor allem Morten. Beide treten enttäuscht die Heimreise an. Dass in der Familie einiges anders ist, spürt der Leser schnell. So leben Bruder und Schwester bei dem Ex ihrer Mutter, bei Isak, einem Klavierstimmer. Beide wissen nicht wirklich, wer ihr leiblicher Vater ist. Sie ahnen, dass es nicht Isak ist trotz seiner Beteuerungen und den Signalen aus der Familie, die sich in alle Himmelsrichtungen verstreut hat. Nicht nur die Mutter, eine charismatische Jazz-Sängerin, hat das Land verlassen. Auch ihr Bruder, Agathes und Mortens Bruder Jannik, hat die Kontakte zur Familie abgebrochen. Keiner weiß, wo er lebt, seitdem er verschwand,  als Agathe gerade mal fünf Jahre alt war.

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Bis er eines Tages kurz vor Weihnachten wieder auftaucht. Das nächste Ereignis, dass das Leben der Geschwister verändern soll. Wie auch der Besuch von Tante, Onkel und Kusine aus Frankreich. Zum Fest der Feste kommt die Familie zusammen, und das Geheimnis um die Identität von Mortens Vater wird gelüftet.

Diese Suche nach dem jeweiligen Vater und damit dem Ursprung des eigenen Selbst durchzieht den Roman wie ein roter Faden – und ist dabei nur einer von vielen. Ausgehend von Agathe erzählt Brekke sowohl von den vielen Facetten des Erwachsenwerdens und den Familienkonflikten als auch von den Schlaglichtern dieser Zeit. Es geht um Liebe und Freundschaft – immer wieder hinterfragt die Heldin ihre Beziehungen wie jene zu dem um mehrere Jahre älteren Philip oder zum Mitschüler Leon -, es geht aber auch um den Geist jener unruhigen Jahre mit der Aufbruchstimmung, in der die jüngere Generation den traditionellen gesellschaftlichen Vorstellungen eine Absage erteilt.

Agathe, die Heldin, ist eine sehr eigenständige junge Frau, die früh Verantwortung für ihren Bruder übernehmen musste und die ihren eigenen Weg gehen will. Sie liest viel, ist wie ihre gesamte Familie von Musik durchdrungen. Sie spielt mehrere Instrumente, hört stundenlang mit ihren Freunden Platten, während ihr Bruder nach dem Fiasko mit der Mutter in der Musik, vor allem in der der Beatles Trost sucht und findet. Dieser besondere Sound verleiht dem etwas mehr als ein Jahr umspannenden und mit markanten Figuren ausgestatteten Roman eine ganz eigene Stimmung – wie auch ein besonderer Protagonist: So ist „Ein rostiger Klang der Freiheit“ auch ein Oslo-Roman, der in verschiedene Stadtteile und zu unterschiedlichen Orten führt. Wer daran Gefallen findet, dem sei an dieser Stelle der Roman „Yesterday“ von Breekes Landsmann Lars Saabye Christensen empfohlen, der ebenfalls von den 60er-Jahren und dem Leben von Jugendlichen erzählt.

„Wirf den Schleier weg, sagte Leon. Schau über deine Schulter auf das Bild, da habe ich einen Regenbogen gezeichnet. Füll dich mit diesem Anblick.“

Toril Brekke ist die Tochter des Dichters Paal Brekke (1923-1993). In Oslo geboren und in den dortigen Künstlerkreisen aufgewachsen, arbeitete sie nach einer Ausbildung zur Typografin als Lehrerin und Journalistin. 1976 debütierte sie mit dem Roman Jenny har fått sparken“, folgend erschienen zahlreiche Romane sowie Kinder- und Jugendbücher. Von 1987 bis 1991 war Brekke Vorsitzende des norwegischen Schriftstellerverbandes. In den 90er-Jahren gehörte sie der Jury für die Vergabe des Literaturpreises des Nordischen Rates an, später stand sie der Jury für die Vergabe des Literaturpreises der Riksmål-Gesellschaft vor, den sie im Jahr 2000 selbst erhielt. 2004 bekam sie den Amalie-Skram-Preis verliehen. Ihre Bücher werden bereits seit einigen Jahren ins Deutsche übersetzt.

Das Dunkle kommt zum Schluss

Mit „Linas Kinder“ las ich vor mehr als 20 Jahren erstmals ein Buch der Norwegerin, die ich allerdings in der letzten Zeit leider etwas aus den Augen verloren habe, während sie Buch um Buch schrieb und in ihrem Heimatland zu einer der beliebtesten Autorinnen zählt. Ihr 2020 unter dem Originaltitel „Klangen av frihet“ erschienener Roman war deshalb eine besondere Wiederentdeckung für mich. Denn dieses vielschichtige wie kraftvolle Buch ist nur auf den ersten Blick und bis wenige Seiten vor dem tragischen Ende von einer gewissen Leichtigkeit und einem jugendlichen Charme getragen. Immer wieder gibt es Hinweise in Form von Erinnerungsfetzen auf etwas Dunkles, das in der Familiengeschichte verborgen liegt und von allen Erwachsenen streng gehütet wird. Die Feier anlässlich des 75. Geburtstages von Großvater Gustav endet mit einer entsetzlichen Beichte, die wohl jeden Leser erschüttern wird und wie ein Faustschlag wirkt.

Dieser wirkmächtige Roman bildet dabei den dritten und letzten Part einer Trilogie über Agathe und ihre Mutter. Im Vorfeld sind in Norwegen mit „Alle elsket moren din“ (2017)  und „Kobrahjerte“ (2019) die ersten beiden Bände erschienen, die hoffentlich noch ins Deutsche übertragen werden. Mittlerweile gibt es mit „Dement diamant“ einen neuen Roman der nunmehr 73-jährigen Norwegerin, in dem sie, vielseitig wie sie ist, über das Altern schreibt.

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „Kulturbowle“ sowie auf dem Blog „literaturreich“.


Toril Brekke: „Ein rostiger Klang von Freiheit“, erschienen im Verlag Stroux edition, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs; 332 Seiten, 24 Euro

Foto von Dane Deaner auf Unsplash

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